Hochstapler in Maßanzügen. Toxische Männlichkeiten. Eine Klein-Buben-Phantasie in Privatjets. Oder: Der Wirecard-Skandal. In einem genreübergreifenden Theaterabend inszeniert Blind Date Collaboration diese Geschichte als Trash-Musical, in der Drag Kings das Spiel um sehr viel Geld persiflieren, das doch nie mehr war als heiße Luft.
Österreichpermiere
11. bis 13. und 17. bis 19. April 2024
Theater am Werk im Kabelwerk | Wien
Mit: Dionysus Opoku aka Holey Father, Dolores Winkler, Nora Jacobs aka STARLET, Stephanie Skrein, Xena Petrović aka Magic Marko, Zoe Gudović aka Zed Zeldich Zed
© Peter Griesser
Das frühere Dax-Unternehmen “Wirecard” wurde als deutsche Antwort zum Silicon Valley gefeiert. Doch im Juni 2020 fliegt das Lügenmärchen auf: 1,9 Milliarden Euro sind spurlos verschwunden – oder haben nie existiert. Anleger*innen verlieren ihr Geld und Ex-Wirecard COO Jan Marsalek türmt. Von Bad Vöslau fliegt er nach Minsk, wo sich seine Spur zunächst verliert. Während die Gerichtsverfahren im Fall Wirecard laufen und nun sogar um ein Jahr verlängert wurden, bleiben die Verstrickungen in die österreichische Politik weiterhin nebulös. Und CEO Markus Braun?
Der will von alledem nichts gewusst haben …
“I am in the business of making the cake much bigger.” (Markus Braun)
Der Wirecard-Skandal offenbart ein verwobenes Konstrukt aus Freunderlwirtschaft, Größenwahn und Machtrausch. Unweigerlich drängt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Hochstapelei und dem
Performen von Männlichkeit auf.
Doch war der Österreicher Jan Marsalek, der zur Zeit in Moskau vermutet wird, lediglich Hochstapler und Blender oder doch Quelle diverser Geheimdienste dieser Welt? Ist die Geschichte von
Wirecard ein Bilanzskandal? Ein Wirtschaftskrimi? Ein Spionage-Thriller?
Eine Slapstick-Comedy?
In jedem Fall ist sie eine gigantische Show und diese nimmt “Wirecard: Last Exit Bad Vöslau” wörtlich. Das Publikum wird zu einer Aktionärsversammlung geladen, auf der Bühne performen Drag Kings
und die scheinbar seriöse Welt der Anzug- und Entscheidungsträger transformiert sich in eine Klein-Buben-Phantasie in Privatjets.
© Patrick Topitschnig
"Die Stärke des Abends liegt vor allem im Physischen: Dragkings performen in silbernen Cowboykostümen und karierten Anzügen höchst stereotype Männlichkeit. [...] Das ist wirklich großartig und sehr komisch." (Sara Schausberger, FALTER, 16.04.2024)
Das Team [...] hat in den Abend, der nur 80 Minuten dauert, aber mit bunten Videoeinspielungen und Gesangsnummern allmählich den Charme der Low-Budget-Produktion hinter sich lässt und immer weiter in glamourösen Camp hinüberwandert, viel Liebe für Details gesteckt: eine Kunstblutszene wie von Quentin Tarantino, die Vervielfachung Marsaleks (man denke an seine realen Identitätswechsel), ein von ihm performter Song gegen die Durchschnittlichkeit, die trockenen Würstchen beim Shareholderbuffet, die eigentlich schon Warnung genug vor dieser Firma sein sollten. Die krasse Story wird mit Irrwitz so richtig zum Schauwert aufpoliert.
Michael Wurmitzer, derStandard, 12.4.2024
Lukas Wodicka/APA, 12.04.2024
Sara Schausberger, FALTER, 02.04.2024
Kronen Zeitung, 11.04.2024
Martin Thomas Pesl, Wirecard–Last Exit Bad Vöslau: Ein Wirtschaftsskandal als Wiener Theatersatire, Deutschlandfunk Kultur, aus dem Podcast Rang 1, 06.04.2024.
Vlnr: Image 1: © Rajarshi Sarkar. Image 2: © Rajarshi Sarkar | Motion Made. Image 3: © Rajarshi Sarkar | Isiwal. Image 4: © Rajarshi Sarkar | Motion Made. Image 5: © Rajarshi Sarkar | Cozy Cabin Ambience. Image 6: © Rajarshi Sarkar. Image 7: © Rajarshi Sarkar | J Utah.
Image 8: © Rajarshi Sarkar. Image 9: © Rajarshi Sarkar.
Ein Projekt von Blind Date Collaboration
Text: Maria Muhar
Mit:
Dionysus Opoku aka Holey Father
- als Mike Mercado, Jan Marsalek & der Journalist | Make-up Design
Dolores Winkler
- als Norbert Maria Walter, Jan Marsalek & die Aktionärin
Nora Jacobs aka STARLET
- als Richard Alexander Fuhrmann & Jan Marsalek
Stephanie Skrein
- als Markus Braun
Xena Petrović aka Magic Marko
- als Ulf König, Jan Marsalek & die Journalistin | Co-Autorin Rap-Song
Zoe Gudović aka Zed Zeldich Zed
- Gastauftritt | Drag Workshop
Inszenierung: Marie-Christin Rissinger
Bühne & Kostüm: Johann Brigitte Schima & Ariella Karatolou
Videogestaltung: Rajarshi Sarkar
Musik: Elise Yuki Mory
Stimme Wirtin: Maria Muhar
Produktion: Felix Reutzel & Luisa Reiterer
Social Media & ÖA: Ulli Koch
Company Management & ÖA: Alisa Beck
Soundengineering Videodreh: Gustavo Petek
Grafik Design: Alessia Scuderi
Garderobe & Stagehand: Lea Neckel
Tontechnik (Theater am Werk): Markus Manahl
Licht- und Videotechnik (Theater am Werk): Jakob Kainzbauer
Produziert von Olympionik*innen
Koproduziert von Theater am Werk
Gefördert von der Kulturabteilung der Stadt Wien und dem österreichischen Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport.
Dank an Nina Dafert, Till Frühwald (VRUM), Felix Huber, Werner Imlauer, Ujjwal Kanishka,
Kornelia Kilga (toxic dreams), Klara Kirchberger, Kitchen - Zentrum der Tat, Alexander Koukal, Robert Koukal, Lidija-Rukiye Kumpas, Daan Lievensen, Iva Marković, Susanne Luschin (Okto), Elke Rauth & Christoph Laimer (dérive - Verein für Stadtforschung), Hans Sandhu und
Werner Thenmayer.
In Eurer neuesten Produktion „WIRECARD: Last Exit Bad Vöslau“ nehmt Ihr Euch des Wirecard-Skandals an, der hohe Wellen schlug. Was hat Euch daran interessiert?
Als ich im Sommer 2022 das Buch “House of Wirecard” von Dan McCrum aufschlug, staunte ich nicht schlecht: Das Buch beginnt mit einer 5-seitigen Figuren-Liste von nahezu ausschließlich männlich
gelesenen Protagonisten. Der Stoff selbst ist ein unfassbar verworrener Bilanzskandal, der geprägt ist vom Wegschauen. Die Anleger*innen machten Profite und Deutschland hatte endlich ein
Finanz-Technologieunternehmen, das es mit den Big Playern im Silicon Valley aufnehmen konnte. An der Spitze des deutschen DAX-Konzerns standen die beiden Österreicher Jan Marsalek und Markus
Braun und alle wollten das Märchen vom großen Geld glauben. Doch nicht nur der Betrug in Milliardenhöhe selbst ist faszinierend, auch die Verstrickungen von Jan Marsalek in politische
Angelegenheiten ist unglaublich: Er verfügte über Kontakte zu diversen Geheimdiensten, war sowohl mit rechten Politiker*innen als auch dem International Centre for Migration Policy Development
(ICMPD) vernetzt und baute eine Miliz in Libyen auf. Am Beispiel von Jan Marsalek offenbart sich ein perfides Machtstreben, das das Produkt einer patriarchal-kapitalistisch geprägten Gesellschaft
ist.
In der Inszenierung stehen Drag Kings auf der Bühne – wie kam es zu dieser Idee?
In “WIRECARD: Last Exit Bad Vöslau” geht es darum, genau diese Welt der Anzug- und Entscheidungsträger satirisch unter die Lupe zu nehmen. Der Fokus der Inszenierung, deren Konzept ich gemeinsam
mit Johann Brigitte Schima entwickelt habe, liegt auf dem Zusammenhang von Hochstapelei und dem Performen von Männlichkeit und welche Kunstform eignet sich besser, eine von Männern gemachte
Seifenblase zu persiflieren als Drag? Darüber hinaus braucht es für die Dramatisierung eines Bilanzskandals eine ordentliche Portion Humor und so kam es zu der Idee, Autorin und Kabarettistin
Maria Muhar zu fragen den Text zu diesem Stück zu schreiben, denn eine Person, der es gelingt mit einer Geschichte über Steuerberatung tosendes Gelächter zu erzeugen, schafft das auch beim Thema
Bilanzfälschung.
Welche Herausforderungen bringt ein Projekt mit sich, welches auf wahren Geschehnissen beruht bei denen immer wieder tagesaktuelle Veränderungen auftreten?
Theater ist ein notorisch langsames Medium. Von der Konzeptentwicklung über die Antragsstellung, die Umsetzung bis zur Premiere dauert es in etwa zwei Jahre. Für investigative Recherchen gibt es
andere Medien, die hier besser geeignet sind. Was Theater jedoch kann - und zwar besser als Journalismus, der es mit der Wahrheit immer ganz genau nehmen muss - ist, sich einzelne Aspekte
anzuschauen, in die Tiefe zu gehen, zu fiktionalisieren und die Mechanismen einer gesellschaftspolitisch relevanten Geschichte offen zu legen. In “WIRECARD: Last Exit Bad Vöslau” werfen wir einen
imaginären Blick hinter die Kulissen dieses Skandals, hinein in die Klein-Buben-Phantasie in Privatjets. Das Stück endet 2020, in dem Moment, in dem die Blase platzt - in diesem Sinne haben wir
nicht den Anspruch tagesaktuell zu sein.
Die Fragen stellte Hannah Lioba Egenolf.
https://www.theater-am-werk.at/de/texts/drei-fragen-an-marie-christin-rissinger
© Alessia Scuderi